„Da vo's teuer ist“ oder "Wer hat's erfunden?"

Heute vor hundert Jahren ist Thomas Mann Roman "Der Zauberberg" erschienen.

Aus diesem Grund habe ich Norman Ohlers "Tatsachenroman": "Der Zauberberg, die ganze Geschichte" gelesen.

 

Am 20. November 1924 erschien Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“.

 In die Jubiläumsaktivitäten zum hundertjährigen reiht sich die Davos-Recherche von Norman Ohler ein, deren Titel nichts weniger beansprucht, als „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ zu liefern.

 Diese Geschichte beginnt mit der Flucht des Mannheimer Medizinstudenten Alexander Spengler, der wegen Beteiligung an den revolutionären Aufständen 1848/49 in Deutschland zum Tode verurteilt worden war und sich in die Schweiz geflüchtet hatte. 1853 tritt er die Stelle eines „Landschaftsarztes“ im abgelegenen Davos an.

 

Bald fällt ihm auf, dass trotz der schlechten Lebensbedingungen dort niemand an Schwindsucht erkrankt ist, jener endemischen Krankheit, die im 19. Jahrhundert in ganz Europa die häufigste Todesursache besonders in der armen Bevölkerung ist. Spengler glaubt, das alpine Höhenklima – Davos ist die höchsgelegene Stadt Europas – als entscheidenden Heilfaktor ausmachen zu können.

 Er lädt Patienten aus Deutschland, bald auch aus anderen europäischen Staaten ein, verordnet ihnen Liegekuren, Veltliner Wein und gehaltvolle Speisen – und erzielt erste Erfolge. Ein niederländischer Bankier investiert, nutzt seine internationalen Kontakte und schon dreißig Jahre später ist Davos ein globalisierter Ort mit Strom, Kanalisation, bestem Schienenverkehr, etlichen Sanatorien, Pensionen, Chalets, Kaffeehäusern und sogar Konsulaten.

Heilerfolge im großen Stil bleiben jedoch aus, zudem wird die Erforschung der Infektionserkrankungen zur Gefahr für den luxuriösen Krankheitstourismus in der graubündner Metropole der Belle Époque.

 

Das bringt den aus Karlsruhe stammenden Arzt Dr. Karl Turban auf den Plan. Mit deutscher Gründlichkeit ordnet er strenge Heilkuren in geschlossenen Sanatorien an, jenseits der „Lustbarkeiten in den Kurhotels“, die von Dauerfeierlaune bestimmt waren. Unter Turbans Einfluss erfolgen für die Moderne richtungsweisende architektonische Veränderungen: lange Sonneneinstrahlung gewährende Flachdächer, glatte abwaschbare Oberflächen, viel Glas, Emaille, Porzellan, Verzicht auf Polster und Schnörkel. Einige Heilstätten folgen Turban, „und entwickelten sich zu ausgemachten Geldmaschinen, hinter denen bald Aktiengesellschaften standen (…) Von großem Vorteil war, dass die Schwindsucht so überaus langsam heilte – wenn überhaupt. Wer einmal in der Mausefalle dieser Gesundheitsversorgung saß, kam so leicht nicht wieder heraus.“

 

Andere Heilstätten pflegen weiterhin die Luxushotel-Variante, wie etwa das Waldsanatorium, das Katia Mann im März 1912 aufsucht. Ihre ausführlichen Schilderungen über Mitpatienten, die Ärzteschaft, Feste, das Essen, etc., die sie während ihres halbjährigen Aufenthalts in Briefen an Thomas Mann mitteilt – „Briefen, die alle verloren sind“ – bilden eine dichte Materialsammlung für das Großprojekt „Zauberberg“, von dem der Großschriftsteller Mann allerdings behauptet, es basiere auf den Eindrücken, „die ich in kurzen drei Wochen dort oben empfing und die hinreichten“.

 

Der 1924 erschienene „Zauberberg“ ist alles andere als eine Werbebroschüre für Davos, das infolge des 1. Weltkrieges und der Wirtschaftskrise bereits mit stark rückläufigen Besucherzahlen zu kämpfen hat. In dieser Situation ersinnt der Verkehrsverein die „Davoser Hochschulkurse“, ein alljährlich am Winterende stattfindendes dreiwöchiges Treffen der „Elite der europäischen Intellektuellen (…) noch kein Weltwirtschafts-, dafür ein Weltwissenschaftsforum.“

Das World Economic Forum erfindet Jahre später der Ravensburger

Wirtschaftswissenschaftler Klaus Schwab. Seit 1971 treffen sich jedes Jahr im Januar Führungskräfte, Unternehmensberater, Financiers, auch Politiker und Künstler zum Networking – Eintrittstickets nicht unter 30.000 Dollar – in der „Fiktionsmetropole Davos“, der die höchstluxuriöse Woche kräftig Geld in die Kasse spült.

 

Ein großes Verdienst von Norman Ohlers erzählendem Sachbuch ist, an Wilhelm Gustloff, den „Diktator von Davos“ zu erinnern, mehr noch an David Frankfurter, der Gustloff, dem eine ungeheuer schnelle „Gleichschaltung des Weltkurortes“ gelang, am 4. Februar 1936 erschießt. Als 2021 eine Initiative sich dafür einsetzt, diesem jüdischen

Widerstandskämpfer eine Gedenktafel in Davos zu errichten, lehnt der Kleine Landrat ab mit der Begründung, das Attentat sei „zu komplex, um auf einer Infotafel zusammengefasst zu werden.“

Schade, dass Ohler versäumt, auf das Digital Denkmal hinzuweisen, das 2022 vom Churer Ensemble mit dem Maison du Futur zum 40. Todestag von David Frankfurter geschaffen worden ist.

Schade auch, dass Ohler in der Rahmenhandlung seiner Recherche – mit Tochter und Freunden zum Skikurzurlaub in Davos – einen pubertären Sprech reproduziert, der, selbst wenn er authentisch ist, besser entklischiert hätte werden sollen: „Ich chillaxe.“- „Sehr schön. Gefällt dir das Hotel?“ - „Totenkrass. Ich fühl das. Lana auch.“

Schade auch, dass Ohler zu selten Altersangaben überprüft hat, Spenglers Studium in Zürich unterschlägt, das Problem der in Vorarlberg und Tirol belegten „Kindersklaverei“ ohne Weiteres auf Graubünden überträgt, die kitschig geratene, an das „Schnee“-Kapitel in Manns „Zauberberg“ angelehnte Schlussszene nicht strenger lektoriert wurde.

Vielleicht sind solcherart Schludrigkeiten der Tatsache geschuldet, dass vom ideengebenden Skiurlaub im Februar 2023 bis zum hundertjährigen „Zauberberg“-Jubiläum zu wenig Zeit für „die ganze Geschichte“ des Davoser Zauberbergs war. Ohler trägt viele Aspekte zusammen, schreibt sehr angenehm und mit Gegenwartsbezug. Alles in Allem eine lohnenswerte Lektüre.

 

Norman Ohler: Der Zauberberg, die ganze Geschichte

Diogenes Verlag, Zürich 2024
ISBN 978-3-257-07318-8
Gebunden, 272 Seiten, 25,00 EUR

Erschienen: 25.09.2024

 

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