„Wir kommen“, kündigt Ronja von Rönne im Titel ihres Debütromans an, und mir kommt als Erstes Peter Lichts „Wir werden siegen, wir werden siegen, dann werden wir eben siegen“ in den Sinn: Von Euphorie wird – wenn überhaupt – hier wie dort nur mit angezogener Handbremse gesprochen, im Modus der Coolness.
Der Romantitel allein gibt das freilich nicht vor. Doch er steht in einem Lesekontext. Wer von Rönnes Blogeinträge oder ihre Kolumnen für „Die Welt“ kennt, wird bei der Ankündigung „Wir kommen“ kaum eine Geschichte voller „Wo-steht-das-Klavier“-Fröhlichkeit erwarten. Im Roman taucht der Titel nur einmal auf: als Antwort zum gemeinschaftlichen Verlassen einer Party. Vielleicht soll er gar nicht viel bedeuten. (Hoffentlich ist er nicht als Drohung gemeint.)
Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin Nora, die wegen nächtlicher Panikattacken einen Psychologen aufsucht. Der gibt ihr nach der zweiten Sitzung ein Notizbuch, in dem Nora während der kommenden vierzehn Urlaubstage des Psychologen detailliert Tagebuch führen soll. Das Notizbuch sieht von außen wie der Umschlag von „Wir kommen“ aus. Der Roman ist eine Art Tagebuchroman.
Er erzählt auch Passagen erlebter Zeit, die nicht als Text in das für den Psychologen bestimmte Journal einfließen. Die Unterscheidung wird durch Tempuswechsel (Präsens/Imperfekt) angezeigt. Diese erscheinen mir jedoch nicht durchweg konsequent eingehalten. Vielleicht liegt das an meiner Lesart, vielleicht aber an Nachlässigkeiten seitens des Lektorats. Diesem ist beispielsweise auch nicht aufgefallen, dass zehn Seiten bevor die bis dahin stumme fünfjährige Tochter von Leonie plötzlich zu sprechen beginnt („seit wann redest du? Warum hast du denn vorher nie was gesagt?“), Karl, Leonies und Noras Freund, in Erinnerung an den ein halbes Jahr zurückliegenden Zoobesuch mit der kleinen Emma-Lou bemerkt: „Sie hat noch wochenlang von den Schimpansen erzählt.“ Ein weiterer Continuity-Fehler: Während Karl am Strand mit dem einzig verbliebenen internetfähigen Gerät arbeitet, geht Nora, vom Strand kommend, ins Ferienhaus, um Nachrichten in ihrem Posteingang abzurufen.
Die Tagebucheinträge über den Alltag der wahlverwandtschaftlich anmutenden Encountergroup aus Lifestyle-Leuten werden durch Erinnerungen an eine weitere Viererkonstellation aus Noras Jugendzeit ergänzt. Eine Bande von dreizehnjährigen, gewinnorientierten Partyveranstaltern, in deren Zentrum Nora und ihre Mitschülerin Maja stehen. Die Beziehung der beiden beschreibt von Rönne nuanciert und anschaulich als eine Mädchenversion von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Maja, die Wilde und Sich-selbst-Überlassene, die provoziert, klaut, trinkt, lügt und die wohlbehütete Nora in ihren Bann zieht.
„Maja ist nicht tot.“ – mit diesem Satz beginnt der Roman (in der Jetztzeit). Nora hält die Todesanzeige, die ihr Majas Mutter geschickt hat, in der Hand und weigert sich zu glauben, was sie da liest. Während des gesamten Romanverlaufs wird sie auf eine Nachricht von Maja warten, von Maja, die sie lange nicht mehr gesehen hat, von Maja, die „über alle (lacht), die sich ans Leben klammern“
Ich gehöre zu denen, die nicht anzweifeln, dass Ronja von Rönne schreiben kann. Sie beobachtet genau, präsentiert Stimmungen und Situationen sprachlich präzise, hat einen Sound: „Ich vermisse Jonas. Ich vermisse Karl. Ich bin eifersüchtig auf Leonie. Ich bin eifersüchtig auf jeden Gegenstand mit einem weiblichen Artikel. Die Marmelade. Die Tür. Alles Schlampen. Meine Mutter sagt, was man liebt, muss man ziehen lassen. Also habe ich den Kontakt zu ihr abgebrochen.“ Oder: „Leonie malte (…) in runder, schöner Mädchenschrift, Schrift aus einem hellen Zuhause mit naturtrübem Apfelsaft und ein bisschen häuslicher Gewalt. Sie vergaß das zweite L in ´Willkommen`.“
Mein Eindruck ist, dass eine Sammlung hervorragender Blogeinträge in Windeseile zu einem Gesamttext kompiliert und mit dem Verlagsstempel „Roman“ versehen wurden. Mich stört nicht das Fehlen eines Plots. Mich stört die Eindimensionalität der Figuren, ihre Klischeehaftigkeit und die reißbrettartige Konstruktion der Geschichte: zweifache Viererkonstellation, „Maja“ als erstes und letztes Wort im Roman, stummes Kind und ständiges Schweigen in Noras Elternhaus, Nora durchgängig in der Opferrolle, Erziehung immer und überall als Erziehung zum Unglücklichsein, Liebe immer und überall als gescheiterter Versuch ...
Weiß ich nach der Lektüre von „Wir kommen“, wie heutige Twentysomethings ticken, die irgendwas mit Medien machen, die Liebe suchen, aber nicht finden, im Miteinander nur „performen“ und Rollen spielen, „die schon am Morgen wieder bröckeln“? Ich glaube schon. Weiß ich nun auch, warum diese Twentysomethings sind, wie sie sind, vor allem, warum sie so traurig sind, wie sie hier beschrieben werden? „Natürlich ist es unsere neurotische Hyperreflexion“, antwortet Nora, „das ständige Hinterfragen der eigenen Rolle, die manische Beschäftigung mit uns selbst, die Zeit, die sich öde und unendlich vor uns ausbreitet und die vage Langweile unserer sandigen Leben.“ Darüber wüsste ich gerne mehr. Vielleicht erzählt mir Ronja von Rönne in ihrem nächsten Roman noch Einiges davon. (Falls nicht, möchte ich ihn trotzdem gerne lesen.)
(Ronja von Rönne: Wir kommen. Berlin: Aufbau Verlag 2016)
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