Freund Eduardo Pagán hat mir vor ein paar Tagen ein „Auftrags“-Bild geschenkt. Er schrieb dazu: „Es ist leicht verschwommen, was der Suche nach Sinn sogar dienlich ist. Es gibt darin viel unterschiedliches Allerlei, so dass es Dir leicht fallen wird etwas Brauchbares zu entziffern und anzuwenden. An Dir liegt es Ordnung dort ´reinzubringen` und eine Geschichte zu weben mit diesen illustrativen Referenzen. Als einzige Regel wäre sinnvoll, dass Du alle Elemente irgendwann erwähnen solltest ...“
Tolle Idee! Tolle Motive! Tollkühn (bis größenwahnsinnig) mein Unterfangen, die Aufgabe nun in einem Tag lösen zu wollen, um das Ergebnis für morgen (also heute) ins Kläppchen stellen zu können.
Nicht lang schnacken, Arbeit anpacken!
Ich nannte ihn den Einäugigen. Er trug ein Monokel vor dem rechten Auge. Wenn das Licht in einem bestimmten Winkel darauf fiel, sah es aus wie ein Loch, durch das man in den Kopf des Einäugigen hätte schauen können. Ich versuchte, mir vorzustellen, was in diesem Kopf vor sich ging. Meine Großmutter hatte mir eingeschärft: "Man schaut den Leuten immer nur vor den Kopf." Mit meiner Großmutter habe ich als Kind viel im Garten unter dem Apfelbaum gesessen. Sie hatte den alten Jägerhut auf, zog an ihrer Meerschaumpfeife und erzählte mir etwas vom Leben. Wir schauten den Pferden zu, die jenseits der Landstraße auf der Wiese standen und sich nicht am Kläffen des Hundes vom Gutsbesitzer störten. "Hunde, die bellen, beißen mitunter auch", sagte meine Großmutter, holte das Messer unter der Schürze hervor und zerteilte uns einen schönen reifen Boskop.
Anfangs hielt ich den Einäugigen mit dem schmalen Oberlippenbart, dem feinen Anzug und der umgebundenen Fliege für einen Tangotänzer. Ich sah die Blicke der reifen Damen an den umliegenden Tischen. Jede schaute zu ihm hinüber, wiegte verträumt den Kopf im Takt der Kaffeehausmusik und manch eine der Herbstzeitlosen deutete mit hochgehobenem Sektglas und dezentem Nicken ein Zuprosten an. Der Einäugige ignorierte die Annäherung. Er nippte an seiner Melange, rauchte einen Zigarillo nach dem anderen und zeichnete mit schnellem Strich in ein großformatiges Notizbuch.
Nie haben wir ein Wort miteinander gewechselt, nur ein paar Blicke, der Einäugige und ich. Einmal habe ich ihm auf dem Weg zum Kuchenbuffet über die Schulter geschaut und in dem Notizbuch einen Mann gesehen, der auf dem Rücken lag, fast wie im Flug. Als ich mich zwischen Heidelbeertorte und Käsekuchen, dann doch für den Käsekuchen entschied, fiel mir ein - von jetzt auf gleich -, woran mich die Skizze erinnerte: Zwei Bilder schoben sich ineinander, Bruegels "Schlaraffenland" und Dalís "Bahnhof von Perpignan". Übte der Einäugige sich in Fälschungen oder erging er sich in Fingerübungen eines Künstlers, gar Kunstprofessors, der Aufwärmübungen, Seminarvorbereitungen macht?
Immer hatte er einen Stockschirm dabei. Eine getarnte Gehhilfe? Oder ein Indiz dafür, dass wir es mit einem zu tun hatten, der auf alle Eventualitäten vorbereitet sein will? Die Tangotänzer-Mutmaßung hatte ich inzwischen gegen die Annahme eingetauscht, bei dem Einäugigen handele es sich eher um einen Ungarn aus altem aristokratischen Geschlecht, k.u.k., das ganze Gezwirbel und Gezwurbel, das jetzt nicht mehr zählt. Was mochte im Kopf eines solchen Nachgeborenen vor sich gehen?
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