Am Morgen der Beerdigung ihrer Fast-Schwiegermutter Olga macht die sechzigjährige Museumsangestellte Ruth zwei eigenartige Seh-Erfahrungen: Zuerst verschwimmt ihr beim Lesen der Zeitung die Schrift vor den Augen, „als würden die Buchstaben Schatten werfen.“ Dann beobachtet sie am Himmel einen „Wolkenschleier“, der plötzlich rückwärts fliegt, während sämtliche anderen Wolken weiter ostwärts treiben. Nach dieser Beobachtung am blendend hellen Himmel nimmt Ruth alles, was sie sieht, in einer Art impressionistischer Unschärfe wahr, getüpfelt, flirrend, aufgelöst „in tanzende farbige Punkte (…), die jeden Augenblick davonfliegen könnten, um sich an anderer Stelle wieder zusammenzusetzen.“
Mit diesem Auftakt, der ebenso ruhig wie verwirrend daherkommt, präsentiert Monika Maron bereits auf den ersten zwanzig Seiten ihres Romans „Zwischenspiel“ die zentralen Motive, die sie im Weiteren erzählerisch entfaltet: Es geht um Älterwerden, Sterben, DDR-Alltag, Literatur, vor allem aber geht es um den Blick zurück, um den Versuch, den Schleier der Vergangenheit zur Seite zu schieben und sich den Schatten der Vergangenheit zu stellen. Erinnerung gewinnt hier Gestalt als der Versuch, aufkommende Gedächtnisfetzen zusammenzusetzen, damit ein Bild entsteht, wie etwas gewesen sein könnte.
In dem Moment, als für die Ich-Erzählerin Ruth das Außen nur unscharf erkennbar ist, setzt in ihrem Innern ein Prozess der Klärung ein, ein Prozess der Selbstaufklärung über Fragen nach Schuld und Identität. Sie „spricht“ mit bereits verstorbenen Menschen, die in ihrem Leben wichtig waren. Gemeinsam wird Erinnertes vergegenwärtigt, korrigiert, neu zusammengesetzt.
Als erstes „erscheint“ die am selben Tag zu beerdigende Olga, die den im Roman öfter zitierten Satz sagt: „Schuld bleibt immer, so oder so.“ Ruth hatte Olgas Sohn Bernhard kurz vor der Hochzeit verlassen, weil sie sich außerstande sah, für die gemeinsame kleine Tochter und gleichzeitig fürBernhards Sohn aus einer früheren Beziehung zu sorgen, der durch einem schweren Unfall pflegebedürftig geworden war. Das Schuldigwerden an Bernhard und seinem Sohn galt es abzuwägen gegenüber dem Anspruch, den Bedürfnissen ihrer Tochter Fanny und auch den eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden. Bernhard macht sich schuldig, indem er später, nachdem Ruth mit ihrem neuen Mann Hendrik und mit Fanny in den Westen gegangen ist, die neunjährige Fanny bei gemeinsamen Treffen aushorcht, um dann als IM Modigliani der Stasi zu rapportieren – eine Gegenleistung für den gewährten ungehinderten Kontakt zu seiner Tochter. Aus Bernhards Perspektive wiegt Ruths Entscheidung schwer, ihm die gemeinsame Tochter zu entziehen und in den Westen zu „entführen“, er verzichtet allerdings zum Wohle der Tochter darauf, die Ausreise zu verhindern. „Manchmal, sagte sie (Olga, DB), gibt es das Richtige einfach nicht, und man hat nur die Wahl zwischen dem einen und dem anderen Falschen, und dann weiß der Mensch sich nicht zu helfen.“
Auf dem Weg zu Olgas Beerdigung verfährt sich Ruth und landet in einem Park. Dort trifft sie erneut auf Olga, aber auch auf den toten Bruno, der mit Ruths Mann Hendrik befreundet war. Bruno, der literarisch begabtere von beiden, allerdings nur überlebensfähig mithilfe von Alkohol (dem er schließlich zum Opfer fiel), hat Hendrik Texte diktiert, die dieser dann unter eigenem Namen im Westen veröffentlichte. Bruno sagt lachend: „Die Sache mit der Schuld ist wie ein Hütchenspiel. Es gewinnt immer, der sie verteilt.“
Noch zwei weitere Wiedergänger erscheinen auf der Bildfläche: Margot und Erich Honecker als schusseliges Rentnerpaar, widerspenstig und unverbesserlich, alte Machtansprüche behauptend und Phrasen dreschend. Die Vorstellung, „Schuld bleibt immer, so oder so.“ ist in ihrem Weltverständnis nicht denkbar. Schließlich – wie könnte es bei Maron anders sein – gesellt sich ein Hund zur Gruppe der lebenden und toten Parkbesucher. Er gehört zu den lebenden, hat himmelblaue Augen und wird von Ruth auf den Namen „Nicki“ getauft. Im Kosmos des Romans nimmt er die Position der „schuldunfähigen Kreatur“ ein und wird zum Ausgangspunkt religiöser Überlegungen.
Die theologischen Einlassungen, plauderige Religionskritik à la, der Mensch erschafft sich seinen Gott, erscheinen mir als Schwachstellen im Roman „Zwischenspiel“. Offen bleibt für mich die Frage, warum Monika Maron an mehreren Stellen die „wirkliche Anwesenheit“ der toten Gesprächspartner betont: Wäre es nicht vollkommen ausreichend gewesen, die Dialoge als innere Monologe Ruths zu belassen? Und dass im Roman Sätze möglich sind, wie: „Augen, mit denen sie Menschen umarmen konnte“, mag man als kleine sprachliche Ausrutscher relativieren – eine Jungautorin in Klagenfurt hätte für den Satz eine verbale Maulschelle kassiert.
„Zwischenspiel“ führt glänzend vor, was mir an Monika Marons Schreiben gefällt: Es wird nüchtern, ruhig, gelassen erzählt, alles klingt geerdet, einfach, unsentimental, (darin entsprechen sich Marons Schreibstil und ihre Art zu sprechen), doch allmählich entfaltet das Ganze eine Wucht und man erkennt staunend, dass hier gar nichts einfach, gar schlicht ist, sondern wie gut alles miteinander verwoben ist, jede kleine Beobachtung und Andeutung ihren Platz haben.
Der eine Tag im Park neigt sich dem Ende zu. Die verpixelte Rückschau weicht dem klaren, alltagstauglichen Blick auf die Dinge. Ruth macht sich auf den Heimweg, ohne Olga beerdigt zu haben. Und zurück bleibt die Frage nach der Summe, den Hindernissen und Möglichkeiten gelebten Lebens: „Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt?“
(Monika Maron: Zwischenspiel. Roman. Frankfurt/M.: S. Fischer 2013)
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