Altfried Janich, 32, ledig, rundlich, ist nach der Wende vom Rheinland nach Brandenburg gezogen, um dort in einer Klinik als Pychiater zu arbeiten. Die Klinik, in der er auch wohnt, ist in einem Barockschloss untergebracht, das sich als ”stark renovierungsbedürftiges Gebäude” entpuppt.
Janich ist der Ich-Erzähler, der uns durch Marion Poschmanns Roman „Die Sonnenposition“ führt. Der Roman steht auf der Shortlist für den „Deutschen Buchpreis 2013“. Der Preis gilt als Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres und wird von der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung verliehen. Die Preisverleihung findet am 7. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse statt („Bekanntgabe des Preisträgers 18:55 Uhr“).
„Janich“ – ein sprechender Name, der im Zusammenschluss von Bejahung und Verneinung hinweist auf die Indifferenz, die Positionsunsicherheit seines Trägers? „Oft weiß ich selbst nicht, ob ich mich als Arzt oder als Patient hier aufhalte.“ Janich wirkt nicht besonders entschieden oder sicher, Selbstbehauptung und Durchsetzungskraft sind seine Sache nicht. Das zeigt sich im Verhalten gegenüber seiner Chefin, Frau Dr. Z., seinen Patienten, ebenso wie gegenüber seiner Schwester Mila und seinem Freund Odilo.
Bezüglich des Vornamens ist die Hinweisfunktion des Namens eindeutig: „Altfried“ bedeutet „Elfenkönig“. Dasselbe bedeutet dem Wortursprung nach auch der Ausdruck „Erlkönig“. Erlkönige zu jagen, ist Altfried Janichs Leidenschaft. Gemeint sind die getarnten Prototypen eines neuen Automodells, das vor seiner Marktreife heimlich unter echten Wetter- und Straßenbedingungen getestet wird. Sie zu jagen meint, solch ein unkenntlich gemachtes Automodell während der nächtlichen Testfahrten aufzuspüren und zu fotografieren. Das erfordert Ruhe, Abwarten-Können und Geduld – Eigenschaften, die einen guten Therapeuten auszeichnen.
Altfried Janich empfiehlt ein Weiteres: „Es kommt darauf an, sich dem Jagdobjekt anzugleichen.“ Das demonstriert er nicht allein draußen im Wald, bei Nacht und Wind. Wir sehen ihn zudem auch auf nächtlichen Streifzügen durch das marode Klinikgebäude, durch die Dunkelheit getarnt, von niemandem gesehen, selbst ein „Erlkönig“, betrachtend und erinnernd: „Nachts erinnere ich mich an Anfänge.“ Er erinnert sich an die Anfänge seiner Freundschaft zu Odilo, an die Anfänge seiner Familie und an die Anfänge jener Wendeopfer-Biographien, die zu Fallgeschichten in seinem Klinikalltag geworden sind.
Die drei Themenkomplexe werden im Roman zu drei eigenen, miteinander verschränkten Erzählungen ausgearbeitet. Die zur Zeit des 2. Weltkrieges einsetzende Geschichte der Familie Janich sticht dabei als eindrücklichste und literarisch bestens gestaltete Einzelerzählung hervor.
Sie schildert den Überlebenskampf von Altfrieds Vater und dessen Schwester Sidonia im und nach dem 2. Weltkrieg und eine Reise von Tante Sidonia mit ihrer Nichte Mila und ihrem Neffen Altfried in die ehemalige schlesische Heimat, wo sie im Garten ihres Elternhauses ein Kreuz für ihre ermordeten Eltern aufstellen will.
Ausgangspunkt für die Erzählung von Altfrieds Freundschaft zu Odilo ist dessen plötzlicher Tod infolge eines mysteriösen Autounfalls. Während ihrer Studienzeit hatte Altfried Odilo zu „Erlkönig-Jagden in die Eifel mitgenommen. Derweil der eine sich Gedanken über das Verschwinden, Tarnen, Verborgene, Träumen, Dunkle macht, gilt das Interesse des Biologen Odilo dem Licht, Hellen, Strahlenden. Er forscht über Biolumineszenz, die Fähigkeit von Lebewesen, Lichtsignale auszusenden, wie z.B. bei Leuchtquallen, Laternenfischen oder Glühwürmchen (kommen alle im Roman vor).
Wie Marion Poschmann in „Die Sonnenposition“ den Vorstellungskomplex von Licht-Dunkel/Erkennbarkeit-Verborgenheit motivisch und sprachlich variantenreich durchspielt, ist grandios. Ob im Großen und direkt, wie beim Thema Biolumineszenz, dem „Glühbirnengleichnis“ oder der durchgängigen Präsenz des Sonnen-Motivs, leitmotivisch für Altfrieds Erzähler- und Therapeutenrolle: ”Ich erzähle von der Sonnenwarte aus. Allsehendes Auge des Arztes. Eine Position der Ferne, des generellen Überblicks. Ich behellige die Dinge mit meiner gleichmäßigen Aufmerksamkeit.” – oder im Kleinen einer (scheinbar) beiläufigen Bemerkung oder Beobachtung: „Reflektorstreifen“ am Trainingsanzug eines Patienten, „Glimmerschiefer“, „behellige“, Durchsichtigkeit/das „Quallenhafte“ von Speisen (Sülze, Götterspeise, Früchte), Patienten "sonnen sich vor der Tür im Glanz meiner Abwesenheit",etc.
Erst nach der Beerdigung erfährt Altfried, dass seine Schwester ein Verhältnis mit Odilo hatte. Hier von einer Liebesbeziehung zu sprechen, fällt in zweifacher Hinsicht schwer. Zum einen weil Mila und Odilo, genauso wie Altfried, als Figuren gezeichnet sind, die zu allem und jedem eine Distanz wahren, die sonderlingsartige Vorlieben oder Verhaltensweisen an den Tag legen, sich kaum mitteilen, fast autistisch wirken. Zum anderen weil die Beziehung bis in kleinste intime Details von Altfried geschildert wird, der dazu unvermittelt vom Ich-Erzähler zum auktorialen wechselt – eine nicht unproblematische Konstruktion, die vermutlich mit der „Sonnenposition“ (s.o.) zu erklären ist, von der aus Altfried Janich erzählt.
Wie etwas wirklich war, warum wir sind, wie wir sind – auf diese Frage der biographischen, psychotherapeutischen, aber auch historischen Erinnerungsarbeit gibt der Roman eine Antwort, die banal klingt, aber von tiefer Wahrheit ist: „Doch leidet man nicht (…) nur allzuoft an Erinnerungen, die nicht die eigenen sind? Seltsame Versehrungen, die wir auf nichts zurückführen können, ein wiederkehrendes Unbehagen, für das wir vergeblich Gründe suchen – vom Durchdringen eines Bildes werden wir mit einem anderen abgelenkt.“
Schlussbemerkung:
Da der ersten Auflage von Marion Poschmanns Roman „Die Sonnenposition“ zweifelsohne weitere folgen werden, seien hier (in bester Absicht) einige jener Glaubwürdigkeitsstolpersteine genannt, die meine anfängliche Lektüretour durch den Roman negativ beeinflusst haben.
Dass im Nachwendedeutschland ein ”stark renovierungsbedürftiges Gebäude” Sitz einer psychiatrischen Klinik (inklusive Arztwohnungen) wird, scheint mir ebenso unwahrscheinlich wie die Tatsache, dass ein 32jähriger Psychiater diese Klinik als ”Heil- und Pflegeanstalt” bezeichnet? Aus seinem Munde unstimmig, falsch oder unpassend wirken auch folgende Formulierungen auf mich: ”hat er bereits Sportkleidung angetan”, ”zu welchem Behuf”, ”er hielt sich breitbeinig”, ”Gesicht, dessen Unausgegorenheit”, ”er hatte keine Beschwerde getan”, ”Schwarz und stumm lag das Flöz”, ”Eine Kostenfrage, bescheidet sie mich”, ”eine Panik, die sie verhinderte, den Heimweg anzutreten”, ”Der Weg ins Dorf ist ein öder”, ”Das Kind ist damit befaßt, (…) nicht zu stolpern”, ”Schwarzen Kies litt sie nicht”, ”Sie sahen auf das unermeßliche Meer hinaus, das sie erschauern machte”, ”Das Personal hat hier Aufenthalt genommen”, ”Sowohl der Direktor als auch das Prinzip der Vergasung wanderten nach zwei Jahren in die Konzentrationslager ab”, ”Mit ungehöriger Opulenz quoll fauliges Obst aus der Küche”.
(Marion Poschmann: Die Sonnenposition. Roman. Berlin: Suhrkamp 2013)
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