Hier nun folgt der dritte Text meiner Umfrage zum Thema „Klagenfurttauglichkeit“:
Doris Brockmann: Umfrage: Bachmannpreis 2013
„Loneliness is a crowded room“
Wilma Kruk trägt turbanartig gewickelte Tücher auf dem Kopf. Aus den oben offenen Tuchgebinden ragt ein wurstartiger Dutt heraus. Das Ganze hat mich anfangs an eine Pagode erinnert. Inzwischen bin ich mir aber sicher, dass es mehr dem Deckel einer Tajine ähnelt, sowohl in der Form als auch in der Farbe. Der Dutt hat dieses dunkle, leicht rotstichige Braun, das man von oft gebrauchten unglasierten Tajinen kennt. Wieviel Eigenhaar in ihm steckt, vermag ich nicht zu sagen. Es könnte sein, dass es sich um Haarersatz handelt.
Wilma Kruk ist ca. 10 Zentimeter kleiner als ich, d.h., sie müsste etwa 1,65 m groß sein. Sie ist ein wenig rundlich. Arme und Beine, Hände und Füße sind jedoch schlank. So sehen Leute aus, die regelmäßig höhere Dosen Cortison nehmen. Doch Wilma Kruk hat weder einen sogenannten Stiernacken noch ein sogenanntes Vollmondgesicht. Sie hat ein feines Gesicht. Das pudert sie weiß, ein wenig mehr als ein Stummfilmstar, ein wenig weniger als eine Geisha. Die vollen Lippen bemalt sie im Farbton „Spicy-Chili-Red“. Das weiß ich, weil sie ihren Lippenstift einmal hier liegengelassen hat. Ihre Kleidung ist schlicht und elegant, weite Oberteile, schmale lange Röcke oder Hosen, fließende, hochwertige Stoffe in dunklen Farben, schwarz, grün, aubergine, braun, auch schon mal blau. Dazu trägt sie großkugelige Ketten oder bleistiftlange Anstecknadeln, Schmuck, der aussieht, als stamme er aus einer kleinen Goldschmiede, in der sich Individualisten die Klinke in die Hand geben. Ich würde sagen, Wilma Kruk ist eine attraktive Mittfünfzigerin.
Ihren Brief erhielt ich am 18. April. Es war mein erster Urlaubstag. Ich war gerade dabei, meine Angelsachen im Auto zu verstauen, als der Postbote das Einschreiben brachte. Er wird sich daran erinnern, wir unterhielten uns kurz über das Angeln, er war im vergangenen Jahr in Irland auf Forellen- und Lachsfang gegangen, ich habe ihm Tipps für Inverness gegeben. Ohne den Stempelabdruck neben der Unterschrift hätte ich den Brief für einen der schlechten Scherze meiner Kollegen gehalten. Die Mitteilung war so absurd, das passte zu ihrer Art von Humor. Doch extra einen Stempel anfertigen zu lassen, nein, den Aufwand würden sie für mich nicht treiben. Ich rief unter der angegebenen Telefonnummer an, und Wilma Kruk erklärte mir detailliert, was sie mir geschrieben hatte. Es klang plausibel, trotzdem konnte ich es nicht glauben. Ich sagte, ich könne noch am selben Tag vorbeikommen. Es war nur ein kleiner Umweg auf der Strecke nach Ijmuiden. Diesmal hatte ich die Fähre nach Newcastle nicht vorab gebucht. Ich hatte mich nicht unter Zeitdruck setzen wollen.
„Wenn ich eine Wohnung zum ersten Mal betrete“ sagt Wilma Kruk, „ist es jedesmal so, als betrete ich eine Kirche. Ich setze die Füße vorsichtig auf, halte den Kopf gerade, Tunnelblick plus Seitenblicke. Man fühlt sich aus allen Ecken beobachtet. Die Gerüche machen mir am meisten Probleme. Auch die angenehmen. Sie sind wie wehrhafte Platzhalter. Das muss man aushalten. Manchmal stelle ich ein Fenster auf Kippe.“
So vertraulich sprach sie gleich zu Anfang an mit mir. Ich bin das nicht gewohnt. Mir käme es nicht in den Sinn, jemandem, den ich gerade kennengelernt habe, Persönliches zu erzählen. Meiner Meinung nach muss das nicht sein. Wilma Kruks Distanzlosigkeit war mir eigenartigerweise jedoch nicht unangenehm. Sie hat etwas Mitreißendes.
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