Vor einiger Zeit habe ich 42 Mal diesen Brief verschickt:
Liebe/r ...
als passionierte Fernsehstudentin der "Tage der deutschsprachigen Literatur" habe ich die KandidatInnenvideos zum Bachmannpreis 2012 in meinem Blog www.walk-the-lines.de vorabbesprochen und an den Twitter-Diskussionen während des laufenden Bewerbs teilgenommen.
Im Blick auf die Ausschreibung des Bachmannpreises 2013 möchte ich eine Umfrage bei den bisherigen PreisträgerInnen sowie bei LiteraturredakteurInnen,
VerlegerInnen, LektorInnen und Bachmannpreisfans durchführen:
Im Anhang finden Sie drei Textauszüge. Dabei handelt es sich um die ersten 2-3 Seiten eines Romans und von zwei Kurzgeschichten.
Da der Entscheid für oder gegen einen Text in den meisten Lektürefällen bereits nach den ersten beiden Seiten fällt, möchte ich Sie bitten, eine Einschätzung abzugeben, ob einer, zwei, alle oder
keiner der beigefügten Texte/Textanfänge Ihrer Meinung nach "klagenfurttauglich" ist?
Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen.
Herzliche Grüße
Doris Brockmann
Der erste der beigefügten Textanfänge war dieser:
Doris Brockmann: Umfrage: Bachmannpreis 2013
Ripple-Effekt
Ich hätte auch weitergehen können. Doch ich drückte auf den Klingelknopf, und während ich wartete, betrachtete ich das Messingschild, auf dem mein Name stand. Dann surrte der Türöffner und ich trat ein. Ich war noch nie in diesem Haus gewesen.
Wie bei allen wichtigen Terminen hatte ich es so eingerichtet, erst eine halbe Minute vor Beginn einzutreffen. Mit sanftem Händedruck und geflüsterten Worten wurde ich begrüßt und zum Ende des Korridors geschoben. Das Wohnzimmer war nussbaumholzvertäfelt und angenehm kühl. Ein Hauch von 4711 lag in der Luft. An einem ovalen Tisch saßen ältere Männer und Frauen, die augenblicklich zu mir herüberschauten, als ich den Raum betrat. Fast hätte ich einen Knicks gemacht, stattdessen nickte ich kurz und nahm in der zweiten Reihe Platz. Einige am Tisch waren jünger, jedoch nicht jünger als vierzig. Kurz nach mir huschten noch zwei weitere Geladene ins Zimmer.
Ich hielt mich an das Vertraute und hatte Prüfungsangst. Der monumentale Anwalt hielt sich an das Vertraute und stopfte Streuselkuchen in sich hinein. Er duzte hier jeden, sprach von den Anwesenden als ihr, die Familie, wurde aber von allen gesiezt. Ich kannte kaum jemanden in der Runde, beteiligte mich an den Diskussionen nicht und hob meine Hand immer dann hoch, wenn die Mehrzahl der anderen das auch tat. Antrag auf Grundbuchberichtigung: Yes! Verbleib des Hausrats der Erblasserin in der Wohnung: Yes! Eintragung eines lebenslangen Wohnrechts für Tante Franziska: Yes! Bei der Frage, wer Anspruch auf die Mieteinnahmen habe, entstand eine Art Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Beteiligten wiederholt sagten: „Ich möchte nur zu bedenken geben.“ – Tante Franziska lief weinend aus dem Zimmer, der Anwalt redete uns ins Gewissen, Tante Franziska kam zurück und der Anwalt stellte den strittigen Punkt erneut zur Abstimmung. Wieder schloss ich mich dem Votum der Mehrheit an und hielt es bei den darauffolgenden Abstimmungspunkten genauso.
Worum es im einzelnen ging, wurde mir immer unverständlicher. Deshalb konzentrierte ich mich auf das, was ich sah, und suchte nach Ähnlichkeiten. Grün-braune Augen, eine schmale Nase, Geheimratsecken, dichte schwarze Augenbrauen, volle Unterlippe, angewachsene Ohrläppchen – Erkennungsmerkmale, nach denen ich Ausschau hielt. Ich beobachtete die Anwesenden so genau und unauffällig wie möglich und kartographierte in meiner Vorstellung sämtliche Erkennungsmerkmale. Die entstandene Karte wies an zwei Stellen eine auffällige Anhäufung der Merkmale auf. Die betreffenden Personen behielt ich im Blick.
„Der Sinn unserer Zusammenkunft“, sagte der Anwalt, ist die Abfassung und Beurkundung eines Vertrages der teilweisen Erbauseinandersetzung infolge des Todes eurer lieben Schwester, Tante und Großtante. Ich lese euch jetzt vor, was ihr hier und heute vereinbart habt, hört gut zu, und wenn etwas unklar ist, melden.“
Mir wurde durch seinen Vortrag zwar nicht klar, was wir im einzelnen vereinbart hatten, aber ich war in Bann gezogen von der Würde des Vortragenden und seiner Handlung. Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Wir hörten andächtig zu und meldeten uns nicht einmal, als der Anwalt die Vornamen aller Beteiligten durchgängig in der Version des katholischen Heiligenkalenders wiedergab. Ich hieß nun Anna und passte auf einmal in die Runde.
Das hinderte mich nicht, den Mann zu ignorieren, der plötzlich ein Onkel von mir sein sollte und von dessen Existenz ich bis zu den Schreiben des Amtsgerichts und der Anwaltskanzlei nichts gewusst hatte. In einem insgeheim pathetischen Akt der Solidarität mit meiner Mutter wich ich seinen Blicken aus und beschloss, ihm die Hand zu verweigern, sollte jemand auf die Idee kommen, uns miteinander bekannt zu machen. Dem Gerichts- und dem Anwaltsschreiben war des weiteren zu entnehmen gewesen, dass außer dem Onkel auch noch zwei Schwestern existieren. Sie leben in der Nähe von London und hatten darauf verzichtet, persönlich zum Termin zu erscheinen, was es mir unmöglich machte, sie ebenfalls zu ignorieren. Die von ihnen bevollmächtigten Vertreter mit Nichtachtung zu strafen, erschien mir ungerecht.
Allmählich bekamen die Zusammenhänge Kontur, die mir, als ich die beiden Schreiben erhalten hatte, unglaublich abstrus erschienen waren, die mich danach aber nicht weiter beschäftigt hatten. Sie waren nur eine vage Andeutung gewesen, die nichts auszurichten vermochte gegen eine lebenslange Gewissheit. Und nun war aus dieser Andeutung auf einmal eine Gewissheit geworden: Das Einzelkind, von dem mein Leben lang die Rede gewesen war, war kein Einzelkind. Es war in Wahrheit der Jüngste von vier Geschwistern. Drei zu eins oder drei gegen einen. Als lebende Töchter und als lebender Sohn des verstorbenen Bruders der Verstorbenen stellten die drei je ein Zweiunddreißigstel dar. Als lebende Tochter und als lebender Sohn des verstorbenen Sohnes des verstorbenen Bruders der Verstorbenen stellten mein Bruder und ich je ein Vierundsechzigstel dar.
(Morgen folgt hier der zweite Text, danach der dritte, und dann geht es an die Umfrageauswertung.)
Kommentar schreiben