"Brockmann lehrt, wie man" ... etwas über das Pubertät­sende in der DDR erfährt

Ich mag, was und wie Jochen Schmidt schreibt. Darum kann ich auch nicht verstehen, warum er bei der Siegerehrung im Rahmen des Bachmannpreises 2007 nicht berücksichtigt wurde. Er hatte eine herrlich schräge und melancholische Weltraumfahrergeschich­te präsentiert, die auch der Jury gefallen hatte, dann aber, als es ans Voten ging, unbeachtet blieb. Nun gut. Sein neuer Roman „Schneckenmühle“ straft die Klagen­furter Juroren Lügen. Er ist zum Reinsetzen. Obwohl. Doch dazu später.

 

Schneckenmühle“ ist ein Pubertätsroman für Erwachsene. Er gibt Einblicke in die Alltagswirklichkeit der DDR Ende der achtziger Jahre aus der Sicht des vierzehnjährigen Jens´. Der Handlungsrah­men erstreckt sich vom Anfang bis zum abrupten Ende von Jens´ letztem Aufenthalt im sächsischen Ferienlager „Schneckenmühle“. Besonders „Jungs“ (von 12-99 Jahren) werden ihren Spaß beim Le­sen haben: Es geht um Autoquartett, Fliegenfangen, Computer, Skat-, Tisch­tennis- und Fußballspielen, derbe Sprüche über Mäd­chen, Angst vor Mäd­chen, Tüftelei („Er hat mit seinem Vater aus einer Seifen­schachtel, zwei Holzkugeln und zwei Lichtschranken­bausätzen eine Steue­rung ge­baut, mit der man den Cursor auf dem Bildschirm bewegen kann, ohne die Tastatur zu berühren.“), Tar­zan, Karl May, Feuer, Ta­schenlampen, die richtige Musik (Naza­reth, Black Sabath, Judas Priest, The Beatles, Depeche Mode, Mar­kus „Deutschland, Deutschland, hörst du mich!“), Jungensgruppen­schlafzimmeratmosphäre, Gummispinnen, Comics usw.


Dass ich als nicht nur postpubertärer, sondern bereits klimaterischer Nicht-Junge auch meinen Spaß beim Lesen hatte, hängt keineswegs nur mit meinem Interesse an einigen dieser Themen zusammen. Es hat seinen Grund in der Art und Weise, wie Jochen Schmidt schreibt: Die Ich-Perspektive eines vierzehnjährigen Jugendlichen aus der DDR wird konsequent durchgehalten, ohne dass es irgend­wo banal oder langweilig würde. Der Stil wirkt lakonisch. Gleich­wohl ist Jens kein altkluger, abgeklärter Sprücheklopfer. In knap­pen Sätzen werden hier äußeres und inneres Erleben miteinander verschränkt und dadurch pointiert. Die meisten Absätze enden mit einem kleinen Schlusseffekt, der das Vorhergesagte entweder zu­spitzt oder mit einem anderen Thema gekonnt verbindet: Nachdem Jens, der nicht tanzen kann und seine Beine zu dünn findet, sich Gedanken gemacht hat zum Thema „Disko“ heißt es: „Als mir mein Cousin aus Rends­burg einmal verriet, daß man, wenn man heiratet, mit seiner Frau nackt tanzen muß, wußte ich gar nicht, was von beidem schlimmer war, sich nackt ausziehen müssen oder tan­zen.“ Die Beschreibung eines Besuches in der „Drohscherie“ endet mit der Bemerkung: „Im Westen gibt es sogar Ata, das nicht scheu­ert. Sie stellen ja auch weiße Schokolade her.“


Der schmächtige Jens ist eher der Beobachter und Denker, nicht der, der einfach mal macht. Aus der „Kinderbibliothek“ und durch Filme „weiß“ er einiges über das „Küssen“ – zur Tat schreitet er nicht: „Man muß nur die Augen schließen und abwarten.“ Im letz­ten Drittel des Romans kommt es zu einer Annäherung zwischen Jens und Peggy. Peggy hat Ohren „wie bei einem Eichhörnchen“, guckt im­mer traurig, kommt ständig zu spät, sächselt („Wegen sei­ner Spra­che bleibt der Sachse Außenseiter.“) und ist lieber für sich als in einer Gruppe. Misfit meets misfit. Jens, der bücherlesende und fernsehsüchtige Frischverliebte hält sich ans vertraute Mediale: „Es macht Spaß, mit Peggy zu reden (…) Mir tut schon die Zunge weh.“ Der gegenseitige Liebesdienst besteht darin, dass Jens Peggy Sprechunterricht gegen das Sächseln und Peggy Jens Tanzunter­richt für die Abschlussdisko gibt. Ob Jens´ Liebesbekenntnis die Angebetete je erreicht, bleibt offen: Als seine Eltern ihn unerwartet aus dem Ferienlager holen (um mit ihm nach Ungarn zu fahren), schreibt er auf den Gipsarm eines Betreuers direkt unter Peggys Pseudonym. „PAPAGENA“: „PAPAGENO“.


Was meine anfänglich vorbehaltlose Begeisterung für den Roman „Schneckenmühle“ ein wenig einschränkt, ergibt sich daraus, dass die tagebuchartige Aneinanderreihung von Einzelbeobachtungen ir­gendwann den Eindruck erweckt, da werde klassentreffenstamm­tischartig Anekdötchen an Anekdötchen gereiht. Ich habe jedes An­ekdötchen genossen, nur irgendwann stellt sich die Frage, was in diesem Roman eigentlich handlungstreibend ist – die zwei „rüber­machenden“ Betreuer sind es nicht (und das ist auch gut so). Offen­bar hat auch Jochen Schmidt sich diese Frage nach zwei Dritteln des Manuskriptes noch einmal gestellt und dann eine kleine Road­movie- und Liebegeschichte angefügt. Ich glaube, es wäre runder geworden, wenn er beide stärker in die vorangegangenen Abläufe eingebunden hätte


Trotzdem: Ich bin Fan! Allein der einzigartige Einfall „KAMPA/DDR/kalt“ (kann ich hier natürlich nicht verraten!) ver­dient ein dreifaches „Horrido!“

Leute, lest dieses Buch!


(Jochen Schmidt: Schneckenmühle. Langsame Runde. Roman. München: Verlag C.H. Beck 2013)






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