Es ist richtig und wichtig, dass ernstzunehmende Zeitungen Partei ergreifen für den guten alten Suhrkamp Verlag. Es ist konsequent, nicht hinnehmen zu wollen, wie jener traditionsreiche literarische Feinkostladen, mit dessen Spezialitäten man intellektuell erwachsen geworden ist, juristisch zerbröselt und den Handlungsgesetzen einer Supermarktkette unterstellt wird. Man kann dies im Tonfall der Entrüstung tun, kämpferisch, ironisch, kritisch-solidarisch, nüchtern oder polemisch – je vielfältiger desto eindrücklicher.
Während Dietmar Dath im Feuilleton der heutigen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ein nuancenreiches und sprachlich elegantes Plädoyer für den Fortbestand des alten Suhrkamp Verlages hält, haben die KollegInnen von der Politik-Redaktion eine fast ganzseitige Wortmeldung zum Thema abgeliefert, die bei mir als erstes eine Pyrrhussieg-Assoziation hervorruft. Was sehen wir?
Wir sehen Fotos von acht Personen, die jeweils an ihrem Arbeitsplatz gezeigt werden. Drei Frauen und fünf Männer, die mit Namen und Beruf, allerdings ohne Altersangabe vorgestellt werden. Ich schätze die Altersspanne auf gleichmäßig verteilt von Mitte zwanzig bis Mitte fünfzig. Alle Gezeigten halten ein Bändchen aus der edition suhrkamp in der Hand. Dem Vorspann unter der Überschrift „Entwürdigung des Seienden“ entnehmen wir, was es mit dem Ganzen auf sich hat: „Wir haben die Menschen draußen gefragt, welches Suhrkamp-Zitat ihr Leben für immer verändert hat."
Für den gezeigten Lokführer war es: „Reproduzierbarkeit der Ergebnisse als Forderung, deren Erfüllung die Bedingung ist, unter der allein der Relation von (konsistenten) Antecedentien und Konsequens (sic) Allgemeinheit und Notwendigkeit zukommt, setzt immer schon die formelle Identität der Subjektivität voraus, denn nur unter dieser Voraussetzung kann die Forderung überhaupt formuliert werden.“ (Peter Bulthaup: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, Frankfurt/M., 1973) Mh.
Für den Mezger ist es ein Zitat aus Jochen Hörischs „Die Wut des Verstehens“, für den jungen Bäckereiverkäufer eines aus Giorgio Agambens „Der Mensch ohne Inhalt“, für die Kellnerin eines aus Karl Heinz Bohrers „Plötzlichkeit“, für den Feuerwehrmann eines aus dem von Christa Bürger mitherausgegebenen Sammelband „Naturalismus/Ästhetizismus“, die junge Personalcruiterin zitiert aus dem 1969 erschienenen Band von Liebel und Wellendorf „Schülerselbstbefreiung“, der Koch aus Laings „Phänomenologie der Erfahrung“ und die Sekretärin aus „Perspektiven der kommunalen Kulturpolitik“. Mh.
Da hat man sich also im Ressort „Politik“ der F.A.S. gedacht: Enzensberger, Kluge, Sloterdijk, Fischer, Geißler, etc. fragen alle. Wir machen mal was anderes, was Witzisches. Wir fragen „die Menschen draußen“. Wahrscheinlich war schon diese Formulierung ironisch gemeint, doch bei Betrachtung der Umsetzung des Vorhabens drängt sich der Eindruck auf, dass dieses „die Menschen draußen fragen“ weniger als ironisches Zitat, sondern als genau die sprachliche Haltung erscheint, die witzisch verkehrt werden sollte und Wiglaf Droste bereits hinreichend als arrogante, entmündigende, gar feudale Haltung analysiert hat.
Woraus entsteht die Komik, wenn ich einen anfangzwanzigjährigen Bäckereiverkäufer zeige, dessen Leben durch ein Agamben-Zitat über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik für immer verändert worden sein soll? Lachen darüber andere Bäckereiverkäufer? Möglicherweise. Möglicherweise aber auch nur genauso verlegen wie die meisten der hier Abgebildeten, denen man ein Suhrkamp-Büchlein in die Hand gedrückt hat, vermutlich mit dem Hinweis: „Schauen Sie einfach nur rein. Halten Sie es hoch. Und bitte lächeln.“
Lachen werden eher die, die wissen, wie man „Agamben“ schreibt oder ausspricht, die eine Rezension von „Der Mensch ohne Inhalt“ gelesen haben, die das Büchlein in ihr Regal gestellt und es vielleicht sogar gelesen haben – doch halt, letztere lachen dann wohl doch nicht schallend und schenkelklopfend mit. Die Komik, die hier produziert wird, funktioniert allein auf Kosten der Abgebildeten. In Abwandlung der Artikel-Überschrift geht es hier um eine „Entwürdigung der Seienden“.
Und was, wenn die Kellnerin tatsächlich Karl Heinz Bohrer gelesen hat, was, wenn die Dargestellten Schauspieler sind? Ich glaube es ändert nichts an dem peinlichen Gesamteindruck. Denn der entsteht aus der vorgeführten Diskrepanz zwischen den Zitaten und den Zitierenden, die als Funktionsträger präsentiert werden, die aufgrund ihrer Alters- oder Berufszugehörigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit als Leser der genannten Werke ausscheiden. Persönliche Kommentare, warum und inwiefern das abgedruckte Zitat das Leben des Befragten „für immer verändert hat“, m.a.W., das wirklich Interessante an so einer möglichen Befragung, fehlen.
Sollten die Zuständigen vom Ressort „Politik“ ihre Maßnahme als (lustigen) Verteidigungsschlag im Sinne des Erhalts der vertrauten Suhrkamp-Bastion gemeint haben, hätten sie – bezogen auf die 36 Strategeme des chinesischen Generals Tan Daoji (gest. 436 ) – im Sinne des Strategems Nr. 11 gehandelt: „Der Pflaumenbaum verdorrt anstelle des Pfirsichbaums“ – eine Strategie, die darauf setzt, jemanden zu opfern, um einen Dritten zu retten. Aber vielleicht will man im Ressort „Politik“ ja gar nicht, was man im Ressort „Feuilleton“ will. Vielleicht will man nicht abwehren, sondern dem Ganzen seinen formaljuristischen Lauf lassen, auf dass etwas Neues, Besseres entstehen möge als der ganze bisherige Quatsch.
Vielleicht aber habe ich nur nicht verstanden, worum es geht. Vielleicht habe ich keinen Humor oder den falschen. Vielleicht sollte ich mich locker machen? Mh.
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