Kuranstalt - Dokumentationsroman einer Maßnahme - 11

Mitpatienten I


Ich fürchte, neben mir wohnt eine Frau mit Tourette-Syndrom. Pha­senweise ruckelt und klopft es in Zimmer 1224 recht stark, als haue jemand mit Armen und Beinen an die Wand und auf den Boden und alles andere, was bei 3 nicht auf den Bäumen ist.

Mitunter höre ich die Nachbarin auch schreien. Und da ich keine zweite Stimme, stattdessen aber kleine Schreipausen höre, weiß ich, die Kranke telefoniert. Das tut sie in einer Weise, als habe sie kein Telefon in der Hand, sondern rufe hier in Bad Pyrmont von der Schanze 3 rüber nach Köln-Ehrenfeld, um dem Gatten mindestens viermal hintereinander mitzuteilen: „Dat ess nid ming Problem!“ Dazwischen fallen böse Wörter, die ich wegen meiner Erziehung hier nicht wiedergeben kann und die mich in Verbindung mit den anderen Symptomen gestern zur Verdachtsdiagnose „Tourette“ ge­bracht haben. Nach vierzig Minuten lauter böser Worte ist das Gan­ze dann schließlich „ming Problem“. Um es zu lösen, beschließe ich, mir auf der Terrasse der Cafetería noch einen Gute-Nacht-Trunk zu genehmigen. Das ärgert mich, denn eigentlich wollte ich heute Abend „aussetzen“ und schön bei einer Flasche Pyrmonter Wasser im „Kurgast“ von Hermann Hesse weiterlesen. Mh.


Kaum habe ich die Zimmertür hinter mir zugezogen, rappelt es in Zimmer 1224 an der Tür und die neue Nachbarin tritt hervor. Sie strahlt mich an und ruft: „´n Avend!“ Ich grüße zurück und versu­che zu fliehen. Da höre ich hinter mir: „Ooch noh ene kleene Avsa­cker nehmen?“ „Nein“, lüge ich zurück, „ich will mir noch ein bisschen die Füße vertreten.“ „Se mache dat rääch. Spazieregehe ess jesund. Dann vill Spaß beim Lopen!“ „Danke“, sage ich und beschleunige. Hinter mir höre ich jetzt Gehgeräusche, als ob je­mand mit Schwimmflossen über den Flur patschte. Der Flur ist lang. Obwohl ich weiß, dass mich eine ca. 120kg schwere Rhein­länderin auf Flip-Flops verfolgt, muss ich die ganze Zeit an Edgar Wallace denken, an den Film „Das Gasthaus an der Themse“, den Diamantendieb im Taucheranzug. Oh mein Gott, hät­te ich doch nur schon den langen Glasdurchgang von Haus 1 zu Haus 2 erreicht! Quatsch – Quatsch – Quatsch macht es hinter mir. Ich tue so, als wenn nichts wäre. Gerade gehen. Ein- und Ausat­men. Dann endlich biegt das Quatsch-Quatsch links in die Cafetería ein. Und schon kommt der Haupteingang in den Blick. Thanks God.


Der kleine Abendspaziergang tut mir gut. Beschwingt federe ich auf die Terrasse der Klinikcafetería und sehe am hinteren Ende meine Nachbarin am Tisch der einschlägig bekannten Skatbrüder sitzen. Sie donnert eine Spielkarte auf den Tisch, nimmt einen tie­fen Zug aus der Zigarette und winkt mir vertraulich zu. Ich lächele vage, setze mich mit dem Rücken zu ihr auf einen der Stühle und bestelle hastig ein Glas Rotwein. Dann nehme auch ich ein paar tie­fe Züge aus meiner Philip-Morris-Zigarette, die jetzt Marlboro Sil­ver heißt, und vertiefe mich in Hesses Aufzeichnungen über seine Kur in Baden-Baden. Erleichtert stelle ich fest, dass, gemessen an Hesses Empfindlichkeiten in Sachen Zimmerwahl, ich vollkom­men unzickig und geradezu tolerant bin. Als sich von hinten ein schepperndes Lachen aus Richtung Skattisch über mir ergießt, dre­he ich mich kurz um und schaue der Patientin aus Zimmer 1224 analytisch streng ins mopsfidele Gesicht: Ja, sie grimmassiert auch ein wenig. Meine Verdachtsdiagnose erhärtet sich.

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