Kuranstalt. Dokumentationsroman einer Maßnahme - 6

Tisch und Tonne


Wenn unsere Tischbesatzung komplett angetreten ist, sitzen vier Frauen und zwei Männer am Tisch. Die drei Geschlechtsgenossin­nen habe ich erst beim Dinner kennengelernt, da sie, als ich hier mittags an den Start gegangen bin, bereits auf- bzw. fertiggegessen hatten.

Neben Heiner und Markus esse ich also fortan mitAnna, Anne und Lena. Während Anne knapp in meine Altersklasse fällt, drücken die anderen zwei mit ihren je 25 Lebensjahren das Durch­schnittsalter gewaltig. Sie werden von uns konsequent nur „die Mä­dels“ ge­nannt. Ihre Anwesenheit lässt meine Vorstellung von der Kur als ei­ner permanenten Seniorennachmittagveranstaltung end­gültig zer­bröseln.

 

Die beiden erzählen von Streichen und Gegen­streichen: Einer von den anderen jüngeren Rheumapatienten hat sie nun schon zweimal mit Falschmeldungen am Telefon reingelegt: Ein­mal hat er sich als Arzt ausgegeben und ihnen erzählt, sie könnten ihre Entlasspapiere abholen, weil sie beim Rauchen beobachtet wurden, das andere Mal hat er sich als Feuerwehrmann vorgestellt und gesagt, ihr Haus sei abgebrannt. „Das geht ja gaar nicht! Feuer­wehrmann, poh, da kriegt man erstmal ´n Schrecken, da denkt man doch nicht. Poh, der kriegt was zurück!“ Vor dem Abendessen wa­ren die Mädels im Ort und haben große Mengen Klebeband ge­kauft. Damit wollen sie die Zimmertür des Delinquenten zukleben. Sie erzählen juxend und glucksend, wie sie im einzelnen vorgehen wollen, winken zwi­schendurch dem zu Bestrafenden am anderen Ende des Speisesaals zu, zitieren noch ein paarmal aus den frechen Telefongesprächen und rufen dabei mindestens siebenmal aus „Das geht ja gaar nicht!“

 

Obwohl ich niemanden stalke, ist für mich am nächsten Morgen „Kältekammer“ angesagt. Beim Gedanken an eine „Behandlung­stemperatur von minus 120 Grad bis zu minus 160 Grad Celsius“ wird mir ganz gruselig. Die als „Weltneuheit“ ange­priesene Kryotherapiesauna“ soll eine Wunderwaffe gegen Arthro­se- und Rheumabeschwerden sein.

Im Vorfeld hatte ich Angst bei dem Gedanken, in der Kältesauna eingeschlossen zu sein, weil irgendein computerfehlgesteuertes Teil die Tür blockiert, doch als ich die Kammer dann sehe, ist angst­technisch erstmal die cool-down-Taste gedrückt: Die Kammer ist eine Tonne. Nicht so wie bei Diogenes quer auf dem Boden und mit Alkohol, sondern hochkant und mit überquellenden Stickstoffwol­ken. Der Kopf guckt oben raus. Immerhin bleibt die Zentrale ver­schont. Doch was habe ich von einer intakten Zentrale, wenn unten der Körper erfriert, weil irgendein computerfehlgesteuertes Teil die Tür blockiert? Die Physiotherapeutin zeigt mir, dass die Tür manuell betätigt wird. Na, immerhin.

Und schon geht es los: Ausziehen, Baumwollunterwäsche an, Baumwollsocken an, Holzschuhe an, dünne Baumwollhandschuhe an und ab in die Tonne. Darin wird man ein wenig hochgefahren und der Stickstoff düst los. Die Empfehlung ist: leichte Drehbewe­gung und Ablenkung. Ich mache einen reduzierten Holzschuhtanz und die Physiotherapeutin erzählt mir, wie sie das Wetter von heute findet. Ich lese auf dem Display -166°C und hoffe, das mit dem Stickstoff möge nun langsam gedrosselt werden. Da kommt schon die nächste Patientin in den Raum und lenkt die temperaturregulie­rende Physiotherapeutin ab. Oh mein Gott.

Das Display zeigt -161°C. Meine Beine sind kalt, aber eigentlich nicht extrem schlimm kalt. Mehr zu schaffen macht mir die Atmung. Ich weiß nicht, ob das von der kältbedingten Verkrampfung kommt oder vom Einatmen des Stickstoffs. 90 Sekunden soll ich in der Tonne bleiben. Bewegen, denke ich, und ablenken. Ich hebe die Klompen an, drehe mich und lasse mir nichts Besseres einfallen als: Mit den Füssen trapp trapp trapp / mit den Händen klapp klapp klapp / ein­mal hin, einmal her / ringsherum, das ist nicht schwer.

Dann winke ich ab. Die Physiotherapeutin fährt mich auf Knopf­druck wieder herunter. Die Tür geht auf. Ich bin frei.

Für das erste Mal sind 60 Sekunden schon ganz gut“, sagt die Physiotherapeutin, „beim nächsten Mal steigern wir ein bisschen.“

Okay“, sage ich, „bis zum nächsten Mal.“



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Kommentare: 1
  • #1

    sabine gross (Sonntag, 29 Juli 2012 16:16)

    Liebe Doris,

    deine Kommentare zu lesen bereitet mir sehr viel Vergnügen und ich muß des öfteren schmunzeln.
    Freue mich schon auf die nächsten Ausführungen deiner Kurerlebnisse.

    An alle herzliche Grüße und weiterhin viel Erfolg und Spaß bei deinen weiteren
    Aktivitäten.

    Sabine