Bachmannpreis 2012 - 4 / Stuben aller Art (Mahlke, Senkel)

Inger-Maria Mahlke nimmt uns mit auf einen leerstehenden Dach­boden. Dort lässt sie campinofarbene Flummis über den Holzboden hüpfen und rollen. Danach wäscht sie die Flummis ausgiebig in Seifenlauge, um sie anschließend so tief wie

möglich in mit bunten Deckfarben gefüllte Gläser zu drücken. Da müssen sie aber wieder raus, denn (Achtung!) nun kommt ein Karton (nein, wirklich kein Cartoon) und in den müssen sie nun alle hinein. Schöne Schmiere­rei. Das Paket wird ordentlich zugeklebt und mit weitem Wurf durch die Luft geschleudert. Dank einer Innenkamera kann man sich die wüste Kleckserei der Flummis anschauen. Als zum Schluss der Karton aufgeschnitten wird, hat er sich in ein abstraktes Bild verwandelt, das aus einiger Entfernung dem Tapetenmuster äh­nelt, das ich in meinem Kinder­zimmer hatte.

Unschwer zu erkennen, worum es sich bei dem Dachboden in Wirklichkeit handelt: (wieder) um eine Mal(er)stube. Es finden sich zudem auch leichte Anklänge von Bastel- und Spielstube.

Nachdem ich stundenlang erfolglos mit der Frage: Wieso, weshalb, warum Flummis?, gerungen habe, sagt der Google zu mir: Hättest du den Artikel „Hüfen ist hip“ von Alexandra Müller gelesen, dann wüsstest du, dass Flummis in Berlin total trendy sind, schon seit über einem Jahr. - Ach, ach, versuche ich mich zu wehren, was in­teressiert uns hier im hinteren Ruhrgebiet, Ecke Münsterland, was letztes Jahr in Berlin total trendy war??!! Dann lese ich den Artikel aber doch und erfahre: Berlin sei in letzter Zeit so anstrengend, wenn man aber mit einem Flummi spazieren gehe, könne man sich viel besser konzentrieren. Nun, Frau Mahlke lebt ja auch in Berlin. Vielleicht geht es ihr ähnlich.

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass die Flummiwaschung und -färbung auf einer Art storyboard stattfinden. Von diesem wird nur „Kapitel 5“ eingeblendet, in dem u.a. ein Nicolai, Lucas, Claas, Gerhard und eine Elsa und Manuela vorkommen. Es kann sich also nicht um den Arbeitsplan von Frau Mahlkes Debütroman „Silber­fischchen“ handeln. Denn der ist eigentlich ein Zwei-Personen-Stück und die Akteure heißen Hermann Mildt (73) und Jana Potul­ski (51). Vielleicht haben wir einen Blick auf den Plan von Frau Mahlkes Folgeroman werfen dürfen? Vielleicht wird Frau Mahlke aus diesem noch unveröffentlichten Roman in Klagenfurt lesen. Vielleicht wird sie am Ende, so wie sie 2009 mit dem 3. Kapitel ih­res Erst­lings den open mike gewonnen hat, heuer mit dem 5. Kapit­el ihres Zweitlings gar einen close ernst-willner gewin­nen.

 

Zwei gute Gründe sprechen dafür, Matthias Senkel hier als nächs­ten aufzurufen: Erstens hat auch er beim open mike 2009 den Preis für Prosa gewonnen. Zweitens lässt auch er uns (wieder) in eine   Mal(er)stube blicken.

Herr Senkel nimmt die Aufgabe „Videoporträt“ so ernst und wört­lich, dass er filmen lässt, wie (die Neo-Rauch-Schülerin) Ste­phanie Dost ein Portrait von ihm malt. Er scheint dabei sehr viel Spaß zu haben, denn er lacht die meiste Zeit mit Lolek-und-Bolek-eigentlich-eher-mit-Lolekhafter Spitzbübigkeit in die Kamera. Und plötzlich höre ich eine Stimme, eine Stimme wie aus dem Off. Aber in dem Film wird gar nicht gesprochen, nur geschrieben, gemalt, gelacht, geguckt, im Sessel gesessen. Trotzdem höre ich diese Stimme und diese Stimme sagt:

Das ist der Matthias Senkel. Der möchte einen Schreib-Wettbewerb gewinnen. Nun muss er einen Film über sich drehen, damit die Leute wissen, was der Matthias für einer ist. Hier mit den kleinen Bildern zeigt er uns gerade, dass er einer ist, der Augen, Ohren, Stirn und Hals hat. Der Matthias zeigt uns aber noch viel mehr. Er zeigt uns, wie das ist, wenn man schreiben oder malen will: Man muss ein Thema haben, Stifte gut anspitzen, erst vorzeichnen oder vorschreiben, auch mal etwas wegradieren, und, wenn mal nicht al­les gut läuft und man sich fühlt, als sitze man vor einer großen schwarzen Wand, immer die Ruhe bewahren und freundlich blei­ben. Dann klappt das schon.

Der Matthias muss es wissen, denn der hat an einer großen Schule in Leipzig gelernt, wie man Bücher schreibt. Dort hat er ein dickes Buch geschrieben, ein richtiges Buch, das man in einem  Buchladen kaufen kann. Es heißt: „Frühe Vögel“. Darin geht es aber gar nicht um Vögel, sondern um Raumfahrer und um die erste Frau auf dem Mond. – Ein richtiger Schelm, der Matthias.



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