Der Trainingstag heute steht ganz im Zeichen von Gelis Abschiedsvorstellung im „Figurella-Ladies-Fit“. Beim letzten Mal hat sie sich tadellos benommen, artig und fehlerfrei die Übungen absolviert und die dargebotenen Tätowierungen ausgesprochen diskret studiert. Darum mache ich mir heute keine großen Sorgen, dass sie durch etwaige Taktlosigkeiten mein Ansehen beschädigen und mich, die ich hier vertragsmäßig noch einige Monate turnen muss, als Ausgestoßene zurücklassen könnte.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie klasse Yoga ist!“ posaunt sie durch den Umkleideraum, in dem wir uns ausgehfertig machen. Am Wochenende war sie auf einem Yoga-Seminar in Bielefeld gewesen, das unsere Freundin Andrea für sich gebucht und schon bezahlt hatte, dann aber wegen Wurzelspitzenabszess nicht besuchen konnte. Ein klarer Geli-Fall.
„Der Swami war ziemlich verschärft. Wenn der dich anguckt, uuuaahr, ich sage dir, Wahnsinn! Ich darf gar nicht daran denken, was der mit seiner Körperbeherrschung alles im Bett anstellen kann, poohh!!“
„Gab´s im Seminar auch was zu lernen oder nur Swamianbetung?“
„Klar habe ich da was gelernt: Stellungen! Phantastisch. Da werden die Muskeln fast noch besser trainiert als wie hier bei den Figurellas. Ich mach dir gleich auf der Matte mal den Frosch vor.“
„Au ja“, freue ich mich. Und dann zuckeln wir los.
Kurz vor dem „Servicepoint“, wo auf grellen Plakaten zum „Trinken, trinken, trinken!“ gemahnt wird, sagt Geli: „Was soll der Geiz. Komm, ich lad dich zum Abschied auf eine Molke ein. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.“
Wie nett, denke ich und hocke mich auf einen der Barhocker.
„Eine Himbeer-Molke“, ordert die Abschiednehmende. Will sie nur mir etwas Gutes tun? Reicht ihr Erspartes nicht aus, sich ebenfalls einen Drink zu spendieren? Oder kann man durch Yoga derart schnell auf Bedürfnislosigkeit umprogrammiert werden? Doch dann sehe ich, wie die Spendable nach zwei Strohhalmen greift. Sie steckt sich einen in den Mund und nimmt einen kräftigen Zug aus dem frisch kredenzten Molke-Glas. „Auch wenn die Pfütze scheißteuer ist, schmecken tut sie echt lecker“, nuschelt sie und lässt den Strohhalm nicht mehr aus dem Mund: „Nun lang doch zu.“ Zaghaft zapfe ich etwas von der Pfütze ab. Da ist das Glas auch schon leer. „Lecker, nh?“, Geli gibt mir einen Klaps aufs Schulterblatt: „Auf geht’s! Los!“
Los geht es mit dem Zirkel-Training. Das haben wir wegen der acht Geräte, die hintereinander zu absolvieren sind, beim letzten Mal in „Die acht Kostbarkeiten“ umgetauft. An den ersten drei Geräten mühen sich unverkennbar Neuzugänge ab. Bereits ab dem zweiten Besuch fühlt man sich gegenüber allen, die zum ersten Mal da sind, wie eine langjährig erfahrene Figurella-Lady, die sich über die tapsigen Anfängerversuche amüsieren darf.
Geli gibt Marschbefehl zum reibungslosen Übungsverlauf: „Pass auf, ich fange mit der fünften Kostbarkeit an, du gehst auf die vierte und dann zirkeln wir uns so weiter, okay?!“
Ich gehorche und stelle Sitz, Beinpolster und Widerstände an der vierten Kostbarkeit genau so ein, wie Nadine es mir auf den Trainingsplan geschrieben hat. Kaum ist der Zähler auf Null zurückgestellt, kommt von der Fünf bereits das Kommando: „Fertig! Los!“ Hastig drücke ich die gestreckten Beine auseinander und wieder zusammen, während Geli, die heute offenbar auch die Sanduhr macht, eine Stange nur mit den Unterarmen hoch- und wieder runterdrücken muss. Es hilft total, wenn man zu zweit trainiert, weil jede alles daran setzt, vor der anderen bloß nicht schlechter auszusehen und schlapp zu machen. Selbstverständlich halten wir den vorgegebenen Neunzig-Sekunden-Takt durch. Wir tragen die Anzahl der Wiederholungen in den Plan ein, vergleichen sie mit dem Ergebnis vom letzten Mal und zeigen der Welt ein zufriedenes Gesicht, auf dass die Welt zur Kenntnis nimmt: Wir haben uns verbessert! Und schon geht es eine Kostbarkeit weiter.
Von hinten drängen die Neuzugänge mürrisch nach. Denen hat man wahrscheinlich nur einen Sechzig-Sekunden-Takt zugetraut, und nun wollen sie an unsere Kostbarkeiten. Aber ich lasse sie auflaufen. Für die werde ich mich nicht unter Druck setzen. Spaßeshalber lasse ich mir besonders viel Zeit beim Einstellen der Widerstände, justiere noch einmal fein nach, überprüfe sicherheitshalber ein weiteres Mal, was ich eingestellt habe, und verpasse vorsätzlich den Gelischen Appell zum Start. Folglich müssen wir ein wenig warten, bis der Zeiger der Uhr wieder auf „voll“ gerückt ist. Nach der Übung trage ich in Ruhe die erzielten Wiederholungen in meinen Trainingsplan ein und überlege, ob ich Geli vielleicht in ein Fachgespräch über richtige und falsche Körperhaltung am Gerät verwickeln sollte, inklusive kleiner Darbietungen, wie man es richtig und wie man es falsch macht. Das würde kräftig viel Minuten dauern, und die Mürrischen könnten sich einen Bart warten.
Da tänzelt Geli zu einer der Matten in der Mitte des Zirkels, hockt sich breitbeinig hin und schlingt die Hände von vorne nach hinten um die aufgestellten Füßchen: „Pass auf, jetzt zeig ich dir den Frosch.“ Sehr konzentriert versucht sie, die Balance zu halten und entspannt nach vorne zu schauen, wankt und schwankt jedoch wie eine Ente auf brackigem Untergrund. „Ey, guck mal“, ruft sie begeistert zu mir herüber. „Ich weiß nicht, vielleicht ist das auch die Schildkröte oder die Taube. Ach ne, bei der Taube ist noch ein Arm oben, glaube ich. Der Kranich oder die Krähe gehen auch so ähnlich. Pass auf, bei denen müssen die Füße überm Boden sein. So. Guck mal.“
Ich gucke und sehe, wie sie zeitraffergleich nach vorne kippt. Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh. So verharrt sie. Ihre Stirn klebt meditationsartig auf der taubengrauen Matte, fast wie angetackert.
„Siehst du?“ hakt sie nochmal nach.
Was ich sehe, sieht wie ein Notfall aus. Doch ich weiß beim besten Willen nicht, ob ich Hilfe holen oder einfach abwarten soll. Die feisten Mürrischen werden aufmerksam und erbeben vor Häme. Eine von ihnen verschluckt sich vor lauter Amüsement an ihrer mitgebrachten Molke.
„Geli, komm wieder hoch“, rufe ich.
„Ich kann nicht“, antwortet die Frosch-Tauben-Krähe, „ich habe einen Krampf in der linken Wade. Scheiße, tut das weh!“
„Vielleicht solltest du bewusst und konzentriert atmen“, schlage ich unter Aufbietung meiner marginalen Yoga-Kenntnisse vor.
„Was meinst du, was ich die ganze Zeit mache!“ kräht es zurück.
Ich ziehe sie behutsam in Rückenlage und bringe den steifen Froschschenkel in Streckposition. Geli dankt mit einem heftigen „Autsch!“ und wirkt erleichtert.
„Alles eine Frage der Atemtechnik und des Loslassens“, belehrt sie mich, richtet den Oberkörper auf und bewegt sich sachte, wie von Geisterhand gezogen, und äußerst körperkonzentriert in die Vertikale. Oben angekommen, schulmeistert sie gleich weiter: „Schau, das ist die entspannte Steh-Stellung. Nun musst du die Hände in Bauchnabelhöhe übereinanderlegen, sie dann langsam nach oben führen und einatmen …“
Sie hört überhaupt nicht mehr auf und salbadert wie in Trance, als hätte man ihr vorhin bei der geisterhaften Auferstehung noch flott einen Sendungsauftrag eingehaucht. Vom Duktus her ähnelt ihr Missionierungsversuch weniger dem der Minihacker- oder Rohrfrei-Propagandisten, die vor dem Kaufhof stehen, als vielmehr dem der „Wachturm“-Träger direkt daneben: Diese leise und sanfte Beharrlichkeit, dieses „Wir wollen wie das Wasser sein, der stete Tropfen höhlt den Stein.“ Ich will aber nicht ausgehöhlt werden, und ich will mich auch nicht weiter lächerlich machen vor den anderen, die inzwischen emsig zu mir und meiner laut pustenden und bramarbasierenden Freundin herüberstieren.
„Komm“, sage ich, „das kannst du mir auch später noch alles erzählen.“
„Der Swami sagt: ´Atha ist jetzt, nicht morgen`“, retouniert die Missionsschwester.
„Hier ist jetzt vor allem eines, nämlich das Ausdauertraining an der Reihe“, versuche ich mich zu wehren, „wir müssen auf die Kardio-Geräte!“
„Gut, aber vorher wird gedehnt.“
Ich lasse die Unerbittliche sich dehnen, besteige den Crosser, gebe die Daten ein und fange an zu crossen. Da die Ausdauer-Geräte in der Nähe vom Beratungs-Schreibtisch der Trainerinnen stehen, bin ich nach einer knappen Stunde des Kreuzbrav-auf-der-Stelle-Nordic-Walkings vollständig im Bilde, wie die Figurella Rhetorik funktioniert:
Regel 1: Im Tonfall einer Kindergarten-Tante sprechen und dabei gnadenlos absolute Suuupermotivation verbreiten: „Du Anja, deine bisherigen Ergebnisse sind wirklich ganz toll, echt. Wie leicht du inzwischen von der Matte hochkommst. Total anders als wie bei deinem Eingangstest vor zwei Monaten. Du bewegst dich insgesamt viel besser als früher. Das merkst du doch auch, nh?“ Welche Frau traute sich dann noch zu sagen: „Nein. Ich gehe doch immer noch wie ein Kaiserpinguin.“?
Regel 2: Beim Hauptproblem „Übergewicht“ fein differenziert je nach Mitgliederstatus und persönlicher Achillesferse der Problemträgerinnen ganz unterschiedlich ermuntern: Für die Neuanmeldungen heißt es, dass sie bei unveränderter Ernährungslage allein durch das Training ein paar Kilos verlieren werden. „Babyleichte Rechnung … erhöhter Grundumsatz … bessere Fettverbrennung … Pfunde schmilzen. Garantiert.“ Für die, die schon länger zum Verein gehören und sich ungehalten zeigen, dass die „babyleichte Rechnung“ nicht aufgegangen ist, heißt es: „Schau mal, Muskelmasse ist immer schwerer als Fettmasse. Und wenn du jetzt ein wenig mehr wiegst, heisst das nur, dass du großartig trainiert hast.“ Wer das nicht schlucken will, wird darauf hingewiesen, dass bei vielen das Training zu einem größeren Appetit führe und frau mal in Ruhe überlegen solle, ob sie in letzter Zeit vielleicht auch mehr gegessen habe. Jene, die das strikt von sich weisen und sich immer noch ungehalten zeigen, erhalten die Information, dass Proteine nach dem Training die Gewichtsabnahme befördern, während Kohlenhydrate das genaue Gegenteil bewirken. „Überleg mal, Roswitha, was du nach dem Sport so isst. Zum Beispiel ein Butterbrot, auch wenn es nur mit Tomaten und Mozarella belegt ist, wäre Gift für dich.“ Und schon ist Roswitha mundtot gemacht und in die Flucht geschlagen. Den Über-Vierzigjährigen, die sich beschweren, dass mit der Rechnung was nicht stimme – trotz viermaligen Trainings pro Woche, wachse die Wampe immer weiter, und wie Muskelmasse sehe das nicht aus –, wird ein Vortrag über die Wechseljahre und ihre Tücken gehalten. Von unglaublichen hormonellen Veränderungen ist die Rede und davon, dass die normalerweise immer mit einer ziemlichen Gewichtszunahme einhergehen. Conclusio: „Was meinst du Beate, wie du wohl aussehen würdest, wenn du nicht bei uns trainieren würdest?“ Schon sagt auch eine Beate keinen papp mehr.
Toll, toll, toll, was die Rhetorikmeisterinnen aufbieten: Jeglichen Aufmucker vermögen sie elegant zurückzuspielen. Alles reine Zu-Null-Siege. Ach, denke ich: Da geh ich mich besser gar nicht beschweren – Spiele, bei denen immer derselbe gewinnt, finde ich doof. Vielleicht hätte Geli langfristig eine Gewinnchance gehabt. Denn als es kurz vor unserem Aufbruch plötzlich daran geht, sie vom Freundinnen-Test-Abo in die zahlende Mitgliedschaft zu dribbeln, zeigt sie eine so prachtvolle Defensive, dass Nadine nach einer guten Viertelstunde aufgibt, ihre Gegnerin nur noch anstrahlen kann und im bekannten Tonfall wissen lässt: „Trotzdem schön, dass du an unserem Schnupper-Programm teilgenommen hast. Ich würde mich freuen, dich hier mal wiederzusehen. Alles Gute. Vielleicht auf Bald.“ Und schwupp, ist sie weg.
„Also, wenn die hier nochmal irgendwas zum Schnuppern anbieten“, spricht Geli beim Rausgehen zu mir, „sag ruhig Bescheid. Ich würde wohl wieder mitmachen. Nadine und du, ihr könnt auf mich zählen.“ Danke Geli.
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