Ruhestand. Dokumentationsroman einer moralischen Entrüstung - 10

7. März 2012

Die Ente übt tapfer den aufrechten Gang. Ich schiebe trotzdem noch­mal für sie die Garagentür hoch und fahr den Wagen vor. Der Hund rennt mit einem Socken im Maul durch die Küche und schüt­telt ihn in Höchstgeschwindigkeit. Ich lass mich von der Machtde­monstration nicht weiter beeindrucken, räume den Frühstückstisch ab und hole mir aus dem Kühlschrank, was ich zum Backen des Geburtstagskuchens brauche. Schon wird die Schüttelei eingestellt, der Hund bezieht Posten vor dem geöffneten Kühlschrank und war­tet auf ein Wunder, das Wunder eines plötzlichen Wurst- und Käse­regens.

Türkischer Teekuchen, same cake as every year. Der Lebens­mensch liebt Gewohnheiten. Und er liebt diesen Kuchen, den ich vor zwölf oder wer-weiß-nicht-viel Jahren zum erstenmal gebacken habe. Wunderlich ist, dass in einem Rezept für einen türkischen Kuchen Madeirawein als Zutat angegeben wird. Vielleicht hat es damit zu tun, dass es in einem deutschen Backbuch steht, das eine deutsche Kuchenbäckerin oder Backbuchautorin verfasst hat. Der fehlte in der Abteilung Das-schmeckt-zum-5-Uhr-Tee noch etwas Besonderes neben den traditionellen Rezepten von englischem Tee­kuchen bis hin zu feinem Sandkuchen. Orientalische Gewürze, wie Kardamom, Zimt, Vanille Muskat, dazu eine Menge kandierte Früchte, ein gutes Basisrezept, aber leider identisch mit dem für den englischen Teekuchen. Ein Pfiff muss her: Raki passt nicht, Rum steht schon in zu vielen anderen Rezepten aufgelistet, Sherry eigentlich auch, tja, was bleibt da noch? Nur gut, dass sie zum Des­sert mal ganz ger­ne einen Madeira trinkt. Also, warum nicht rein damit, in den türkischen Teekuchen? Ist doch eh irgendwie alles das Gleiche, da unten am Meer, wo immer die Sonne scheint und Süßes noch richtig süß und hochkalorisch ist.

 

Eine Zutat gibt es noch, die wohl richtig türkisch ist. Das sind die eingelegten schwarzen Walnüsse. Die habe ich allerdings nur ganz am Anfang zweimal verwendet. Nicht, dass sie mir nicht schme­cken – ich kann mich gar nicht mehr richtig erinnern, wie sie schmecken. Nur ist es bisher immer schwierig gewesen, sie zu be­sorgen. Selbst im türkischen Lebensmittelladen sind sie nicht jeder­zeit vorrätig. Also habe ich einfach normale Walnüsse in den Teig getan. Ist doch eh irgendwie alles das Gleiche. Hauptsache le­cker. So wurschtelt man sich eben durch. Kleine Abwei­chungen sind ja noch keine Vergehen. Macht doch jeder.

 

Während ich die Backzutaten wiege, klein schneide, miteinander vermenge, gehen mir die Bilder von Göreme nicht aus dem Kopf. Ich habe sie gestern Abend zum ersten Mal gesehen, als ich für den Freund meiner Ich-Erzählerin einen Ort in der Türkei suchte, wohin er eine Studienfahrt machen könnte. Nach der Studienfahrt soll es zum Bruch der Beziehung kommen. Da der Freund in Köln Ethno­logie studiert, mein Roman im Jahr 1985 spielt und zeithistorisch stimmig sein soll, musste ich überprüfen, ob es in dieser Zeit am Kölner Institut für Ethnologie einen Studienschwerpunkt Türkei gab. Ja, man könnte sagen, den gab es. Jedenfalls erscheint er ange­sichts der Publikationslisten nicht unwahrscheinlich, im Gegensatz zu den derzeitigen Studien- und Forschungsschwerpunkten Afrika und Asien. Dorthin zu einer Exkursion aufzubrechen, wäre zu zeit­aufwändig, Manfred, der Freund von Anke, soll nur zwei oder drei Wochen nicht vor Ort sein.

 

Bei meiner Stichwortsuche im Internet hatte ich neben Ethnologie und Türkei auch die Zahl 1985 eingegeben – und so entdeckte ich Göreme. Denn der Ort und das gleichnamige Naturschutzgebiet sind im Jahr 1985 von der Unesco zum Weltkultur- und Weltnatur­erbe erklärt worden.

Göreme sieht auf den Bildern mal wie eine Mond­landschaft, mal wie eine Zuckerbäckerhöhlensiedlung aus. Die Ge­gend ist geprägt durch vulkanischen Tuffstein, der sehr weich ist und unter dem Einfluss von Wind und Wasser zu bizarren Gebilden geformt wur­de. Unter anderem stehen dort hunderte bis zu dreißig Meter hohe Kegel, die man Feenkamine nennt. Ab dem 4. Jahrhun­dert haben Christen in der Gegend Zuflucht gesucht und Höhlen­wohnungen und unterirdische Felsenkirchen in den weichen Stein gebaut. Rie­sige Wohneinheiten sind so unter der Erde und in den Felswänden entstanden, mit ausgeklügelten Luftschacht- und Ka­nalsystemen ... – Ich weiß, ich verzettele mich und werde nie fertig werden mit meinem Roman, wenn ich wegen jedem Ort oder Da­tum stunden­lang auf Nebengleisen fahre. Aber auf Nebengleisen zu fahren, ist manchmal sehr schön.

 

Das große Warten: Der Hund sitzt vor der beleuchteten Ofentür und bewacht das Backgeschehen. Anschließend erwartet er Wächter­lohn. Ich lenke ihn mit einem Spaziergang ab, der auch mich ablen­ken soll von der Angst vor dem Zahnarzttermin am frühen Nach­mittag. Beim Zahnarzt geht es rasant voran, zehn Euro Praxisge­bühr bezahlt und dann gleich ab ins Behandlungszimmer. Und dort muss ich dann eine halbe Stunde im Stuhl warten. Das ist das Schlimmste überhaupt. Warum lässt man mich nicht im Wartezim­mer warten, schön abgelenkt vom Schmökern in einer Garten- oder Frauenzeitschrift? Warum muss ich mir das hier alles anschauen, mit schön viel Zeit, um mir in Ruhe ausmalen zu können, was alles gleich passieren könnte? Und dann kommt der Zahnarzt strahlend ins Zimmer und sagt, es tue ihm sehr leid, dass ich solange warten musste, aber wegen des Streiks der Busfahrer habe er seinen Sohn von der Schule abholen müssen. Ich glaube das, weil ich nicht glauben kann, dass man sich so eine Ausrede einfallen lässt.

 

Sicherheits­halber könnte ich nachher zuhause den Mann im öffent­lichen Dienst fragen, ob hier heute Warnstreiks stattgefunden ha­ben. Und sollte ich angeflunkert worden sein, dann, … Ja, was dann? Den eigenen Zahnarzt tadeln? Wird das nicht zum Eigentor auf Lebenszeit? Jedesmal, wenn es schmerzt, könnte er sagen: Tut mir leid, aber wenn Sie erst so spät kommen, wird es halt kompli­ziert, ich könnte Ihnen eine Spritze geben, wenn Sie es nicht aus­halten. Doch seine Spritzen tun so weh, dass manchmal die Be­handlungsschmerzen besser zu ertragen sind als der Versuch, sie zu be­täuben! Oder: Einmal feste tadeln und dann auf Nimmerwiederse­hen zu einem anderen Zahnarzt? Bis ich wieder einen gefunden habe, dem ich vertrauen kann, das könnte dauern und das ist in meinem Alter zu riskant. Nein, ich sehe keine Alternative. Besser, ich glaube meinem Zahnarzt, was er sagt. Man kann auch nicht im­mer und überall Verdacht hegen. Nur den Busfahrern bin ich ein bisschen böse, weil sie mich in missliche Lage gebracht haben. Die erwartete Behandlung entpuppt sich als bloße Untersuchung, ohne dass ich verarztet werde: Bestandsaufnahme, Röntgen, Beratung. Danach werde ich mit drei Folgeterminen wieder in die Warte­schleife geschickt.

 

Am Abend sitzen wir auf dem an sich sehr schönen neuen, leider einseitig ausgeleierten Sofa, essen Chips und warten: auf den Ge­burtstag, auf den internationalen Frauentag und auf den Großen Zapfenstreich. Ich erfahre, dass die örtlichen Schulbusse wegen der Warnstreiks teilweise nicht im Einsatz waren und schäme mich ein wenig. Zur Strafe gebe ich mir auf: Bis morgen schreibst du dir den Satz: Ich will nicht immer so misstrauisch sein!, zehnmal hinter die Ohren!

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